Gegen die „Verziehung“ zur Weiblichkeit
Marie von Troll (sie nannte sich erst später Irma) wurde als jüngstes von vier Kindern einer Beamtenfamilie in Salzburg geboren und zuerst gemeinsam mit ihrer Schwester Wilhelmine von der gebildeten Mutter unterrichtet. Anschließend besuchte sie das Erziehungsinstitut im Kloster Nonnberg, das sie aus Krankheitsgründen zwei Jahre später wieder verließ. Ihre umfassende Bildung erwarb sie danach im Selbststudium. In einem Brief an ihre Schwester Wilhelmine schildert sie ihr außerordentliches Tagespensum:
Was meine arbeit- oder unarbeitsamen Hände betrifft, habe ich bis jetzt täglich eine Stunde zum Rakkommodieren meiner Kleider und Wäsche verwandt. Seitdem aber Fräulein Brie (englische Lehrerin) bei uns ist, habe ich so viel zu tun und zu lernen, daß es mir, sogar nach Einsicht der Mutter, nur am Donnerstag, da gibt mir Brie keine Stunde, möglich ist, diese Flickstunde einzuhalten. Englisch arbeite ich täglich ca. 3 Stunden, Aufgaben der Kompositionslehre nehmen viel Zeit weg, singen muß ich natürlich auch, schwimmen en somme fast zwei Stunden, hernach vierhändiges Spiel, Kompositionsunterricht, Singakademie, Geselligkeit, französisch, italienisch, interessanteste Lektüre, mit der T... mich überschwemmt, Maman und menschliche Bedürfnisse erfordern auch reichliche Zeit. – Einverstanden? Meine Lektüre ist bildend und schön, dermalen Goethes Briefwechsel mit Schiller und Frau von Stein; „Ästhetische Vorträge“ von Grube; psychologische und wissenschaftliche Aufsätze eines gewissen Baer; Dramen Corneilles und Racines; außerdem studiere ich eifrig Weltgeschichte, lese zur Erholung „Musikalische Charakterköpfe“ von Riehl und lese der Mutter ein höchst interessantes Buch von Flathe „Shakespeare in seiner Wirklichkeit“ vor. Und doch kommt mir nichts untereinander, sondern alles gräbt sich nicht nur tief in mein Hirn, sondern auch in mein Lebenswerk hinein.
Hans Widmann, Irma von Troll-Borostyáni
Irma von Troll-Borostyáni kritisiert in ihren Schriften die vorherrschenden Vorstellungen von einer „weiblichen Natur“ und die bestehende „Mädchenverziehung“ in allen sozialen Milieus. In ihren Reformvorschlägen für eine staatliche Jugenderziehung plädiert sie für eigene Mädchenschulen. Die Koedukation beider Geschlechter hält sie zwar für ein wünschenswertes Ziel, die Zeit sieht sie dafür allerdings noch nicht gekommen. Besonders wichtig ist ihr die Zulassung von Frauen an den Universitäten. In zahlreichen essayistischen und literarischen Texten beweist sie die Unlogik männlichen Denkens gegen das Frauenstudium, insbesondere der Medizin, denn alle Argumente gegen den Arztberuf ließen sich auch gegen den Beruf der Krankenschwester einwenden.
Bis ins späte 19. Jahrhundert war Frauen der Zugang zu einer qualifizierenden und berufsbildenden Ausbildung weitgehend verschlossen. Bürgerliche unverheiratete Frauen konnten nur wenige Berufe wie Gouvernante und Erzieherin ausüben. In den 1860er Jahren boten in der Stadt Salzburg nur die katholischen Frauenorden der Ursulinen und der Benediktinen auf dem Nonnberg eine spezielle Mädchenbildung an. Erst 1910 wurde ein Realgymnasium eröffnet, an dem Mädchen maturieren konnten.
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