Die Befreiung vom Korsett
In der Geschichte der menschlichen Verstandesschwäche gebührt dem Kapitel der weiblichen Kleidung eine hervorragende Stelle. […] Die Frauen des 20. Jahrhunderts werden sich eine den höheren Aufgaben und Lebenszielen, die sie sich stellen, entsprechende Kleidung schaffen müssen. Eine Regeneration ihrer Kleidung kann aber niemals von der Mode ausgehen, die den Frauenkörper in seine Kleider steckt wie eine Ware in die Emballage.
Aus: Das Weib und seine Kleidung
Schon als junges Mädchen machte Marie von Troll ihre Ablehnung der traditionellen weiblichen Rolle auch äußerlich sichtbar und ließ sich statt des üblichen Gretchenzopfs die Haare kurz schneiden – immerhin über ein halbes Jahrhundert vor der Bubikopfmode. Sie emanzipierte sich von der bürgerlichen Frauenmode, trug Hemden, Sakkos, Röcke und Hosen, rauchte öffentlich Zigarren, war begeisterte Schwimmerin, Eisläuferin und Bergsteigerin. Später wurde ihre Sportbegeisterung und Reiselust durch Krankheiten stark eingeschränkt.
In ihrem satirischen Pamphlet "Das Weib und seine Kleidung" (1897) setzt sich Irma von Troll-Borostyáni für eine radikale Reform der weiblichen Kleidung ein. Sie lehnt das „Panzermieder“ ebenso ab wie die Verstümmelung der Füße durch zu enge Schuhe und hohe Absätze und den Ballast am Kopf durch aufgetürmtes Haar und lächerlich aufgeputzte Hüte. Auch den Frauenrock findet sie unkleidsam: Schön wird man dieses die Hälfte des Frauenleibes wie ein formloses, schlottriges Futteral einhüllende Gewandstück, den Frauenrock, doch gewiß nicht nennen. Es müßte denn sein, daß man einen Ballon, ein Bierfaß oder eine Walze für schöner hielte als die menschlichen Körperformen. Stattdessen fordert sie die Hose – die sie selbst gerne trägt – als weibliche Bekleidung nicht nur für Radfahrerinnen.
Auch Irma von Troll-Borostyánis Schwester Wilhelmine war eine begeisterte Bergsteigerin, von ihrer Besteigung des Großglockners berichteten sogar die "Münchner Neuesten Nachrichten".
Das Korsett – und die damit verbundene Körperform, die Wespentaille – symbolisiert wie kaum ein anderes Kleidungsstück die Zurichtung des weiblichen Körpers durch die Mode. Die Einschnürung des weiblichen Körpers korrespondierte mit der Einschränkung der weiblichen Bewegungsfreiheit, wozu auch Sportarten wie Turnen und Schwimmen zählten. Das Körper- und Modeideal gegen Ende des 19. Jahrhunderts sah die Frau als erotisches Sexualobjekt, die Frauenrechtlerinnen propagierten dagegen ein „natürliches“ und entsexualisiertes Körperbewusstsein. Der Kampf für die Befreiung vom Korsett bedeutete auch die Eroberung des öffentlichen Raums, des Sports und des Reisens und richtete sich gegen die beengenden Zuschreibungen der Geschlechterrolle.
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